Debussy und Orgel…das scheint sich auf den ersten Blick auszuschließen. Zu weit entfernt scheint die bis ins Äußerste verfeinerte, intime Welt des Klangmagiers von der oft als kantig und statisch verrufenen Welt des königlichen Instrumentes.
Als ich im November 2011 den II. Band der Préludes, die mich als Pianist immer fasziniert hatten, auf das Pult der neuen Klais-Orgel in der Christuskirche Karlsruhe legte, suchte ich eigentlich nur kurze Stücke für ein Orgelprogramm zum Thema „Vergänglichkeit“ und schlug daher gleich die „Feuilles mortes“, die „Toten Blätter“ auf, da bekanntlich solche nicht-liturgischen Charakterstücke in der Orgelliteratur, abgesehen von Karg-Elert oder Vierne, sehr selten sind. Viel Ausbeute erhoffte ich nicht, obwohl ich natürlich im Hinterkopf hatte, dass Messiaens Debussy-Verehrung ja irgendeinen auch auf der Orgel sich manifestierenden Hintergrund haben müsse.
Bereits der erste Akkord elektrisierte mich. Entfaltete dieser Akkord schon pauschal mit leisen Grundstimmen registriert eine enorme Wirkung, verstärkte sich der Eindruck noch bei einer „entfalteten Registrierung“: Solostimme holzbläserartig oktaviert (Solozungen 16‘,8‘) und harmonisch-sanfter Begleitung, Bässe pizzicato-artig gedeutet.
Dieser Moment war die Initialzündung für die Bearbeitung des gesamten Bandes mit allen zwölf Stücken. Zunehmend war ich verblüfft, wie „orgelmäßig“ Debussy in seinem Spätwerk eigentlich schreibt.
-lange liegende, harmonisch intensive Akkorde
-an Messiaen gemahnende regelmäßige Verwendung des ‚2 Modus‘.
-Auffächerung von Solostimmen über mehrere Oktaven, die sich auf der Orgel mit schönen
Solostimmen, sowie idealerweise Oktavkoppeln sehr einfach und farbig darstellen lassen
-Weite Passagen der Préludes sind in drei Systemen notiert. Die Verwendung des Pedals ersetzt das komplementäre Spiel der linken Hand zwischen Basstönen und Mittelstimmen bzw.
Begleitakkorden.
-Bei genauer Analyse zumeist streng ‚stimmige‘ Schreibweise
-Völliger Verzicht auf pianistische Spielfiguren, die sich schwer auf die Orgel übertragen lassen (Albertibässe, arpeggierte Begleitungen, Oktavläufe etc.)
Auch wenn diese Bearbeitungen eine sehr willkommene Bereicherung des Repertoires aus einer Zeit bilden, die nicht in sehr großer Zahl Orgelwerke auf diesem Niveau hinterlassen hat: man sollte nicht um jeden Preis auf weniger geeigneten Orgeln die doch zerbrechlichen Stücke in ein Prokrustesbett zwingen. Als Voraussetzungen für eine gelungene Umsetzung sehe ich das Vorhandensein schöner Holzbläserstimmen in verschiedenen Fußtonlagen, gewisse Möglichkeiten der Oktavkoppelungen, fein unterschiedene 8‘-Klangfarben, möglichst zwei Schwellwerke und einen elektronischen Setzer. Manche Stücke (II, V, VI) lassen sich auch in einfacheren Verhältnissen umsetzen.
Insgesamt habe ich die Registrierung für eine dreimanualige Orgel eingerichtet und bewusst dabei die ‚originale‘ Registrierung auf der (viermanualigen) Karlsruher Klais-Orgel als Richtschnur genommen, um eine möglichst genaue Vorstellung von den Klangfarben zu übermitteln. Auf zahlreiche denkbare Ossia-Fassungen habe ich verzichtet, um die Lesbarkeit nicht zu erschweren. Ich möchte jeden Interpreten ermuntern, das Klavier-Original zum Vergleich heranzuziehen und je nach Orgel andere Lösungen zu finden. Alle Vortragsbezeichnungen aus dem Original sind auf französisch beibehalten, auch wenn sie vielleicht hier und da redundant sind.
Fingersätze sind nur an wenigen Stellen, in denen ich ein Spiel mit einer Hand auf zwei Manualen („Thumbing down“) vorschlage, angegeben. Insbesondere möchte ich damit die gute Realisierbarkeit dieser Passagen betonen.
Zu den Registrierangaben: »in 8’4‘« etc. bezieht sich auf die Nutzung von Oktavkoppeln, d.h. eine bestimmte Registrierung in mehreren Lagen. In manchen Fällen kann das Fehlen von Oktavkoppeln durch entsprechendes Ausregistrieren annähernd ersetzt werden.
Gemshorn 8‘ bezeichnet eine möglichst neutrale, klar zeichnende, doch harmonisch aussagekräftige Grundstimme.
»m.g.« (main gauche): Hinweise auf Einsatz der linken Hand vom Komponisten in der Klavierfassung
m.s. (mano sinistra): dasselbe bezogen auf die Orgelfassung vom Herausgeber
Debussy auf der Orgel zu spielen, verändert den Blick auf dieses Instrument. Wir sind fasziniert von der harmonischen Schärfe, der Durchsichtigkeit und ‚Clarté‘, die eine wohldisponierte und – intonierte Orgel ermöglicht; und bedauern gleichzeitig, dass nicht mehr Komponisten, gerade mit den heutigen technischen Möglichkeiten, von diesen inspirierenden Möglichkeiten feinster und gleichzeitig machtvoller Klanggestaltung Gebrauch machen.
Carsten Wiebusch
Inhalt
I. Brouillards (Nebel)
II. Feuilles mortes (Tote Blätter)
III. La Puerta del Vino (Die Weinpforte)
IV. “Les Fées sont d’exquises danseuses“ („Die Feen sind ausgezeichnete Tänzerinnen“)
V. Bruyères (Heide)
VI. Général Lavine – eccentrique (General Lavine – exzentrisch)
VII. La terrasse des audiences du clair de lune (Die Terrasse der Mondscheinaudienzen)
VIII. Ondine (Undine)
IX. Hommage à S. Pickwick Esq. P.P.M.P.C.
X. Canope (Kanope)
XI. Les tierces alternées (Die alternierenden Terzen)
XII. Feux d’artifice (Feuerwerk)